Wednesday, July 15, 2020

So roch der reiche Osten, so der Westen - Sächsische Zeitung

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Jean-Baptiste Grenouille ist ein Geruchs-Neutrum. Seinen Poren entweicht nicht der mindeste Duft. Dafür ist er im Gegenzug mit einem übernatürlichen Geruchssinn ausgestattet und seine Nase ein olfakorisches Aufnahmewunder. Im manischen Bedürfnis nach Anerkennung entwickelt sich Grenouille zum radikalen Parfümeur, der über die Leichen etlicher Mädchen und junger Frauen von ausnehmender Schönheit geht und einen Duft der Liebe kreiert. Die Geschichte Grenouilles, gleichermaßen Monstrum wie Mitmensch, dürfte vielen bekannt sein – schließlich war Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“ ein Bestseller und auch dessen Verfilmung 2006 durch Tom Tykwer ein Publikumserfolg.

Ein solcher dürfte Karl Schlögel, ausgewiesener Experte in Sachen Geschichte Osteuropas, mit seinem neuen Buch „Der Duft der Imperien“ nicht ganz gelingen, so kurzweilig sein Versuch, anhand zweier Parfüms Glanz und Abgründe des 20. Jahrhunderts neu zu erzählen, auch ausfällt. Es geht um die Welt des Luxus, was für die Gesellschaftsanalyse „nicht weniger aufschlussreich sein kann als Studien zur Geschichte des Alltags der einfachen Leute“, wie Schlögel im Vorwort versichert.

Ausgangspunkt ist das Jahr 1913 – in Russland wird mit imperialem Pomp das 300. Thronjubiläum der Romanows gefeiert. Das Zarenreich ist eine Parfümmacht von Weltrang. Von dem Franzosen Ernest Beaux, der in Diensten des Moskauer Hoflieferanten Alphonse Rallet & Co. steht, wird ein Parfüm kreiert, das Bouquet de L’Impératrice Catherine II.

Nach der Revolution mit all ihren Wirren und Gräueln landet Beaux wieder in Frankreich, experimentiert olfaktorisch weiter und stellt diverse Varianten eines Dufts davon her. Coco Chanel empfindet die fünfte Probe als die mit Abstand beste – Chanel N° 5, das in diesem Buch etwas amorph für „den Westen“ steht, war geboren, ein Stöffchen, das nicht zuletzt als Marilyn Monroes bevorzugte Nachtgarderobe („Zum Schlafen trage ich nur ein paar Tropfen Chanel.“) zur Legende geworden ist.

Ein Opfer Stalins

Diese Geschichte ist leidlich bekannt, in der Damenwelt mit Sicherheit mehr. Deutlich weniger hingegen die des Parfüms mit dem schönen Namen Krasnaja Moskwa, Rotes Moskau. Entwickelt hat es August Michael, auch er wie Beaux Franzose, der aber in der Sowjetunion hängen blieb, sich am Wiederaufbau der Parfümindustrie beteiligte und dessen Spuren sich dann verlieren. Vermutlich wurde er 1937 wie so viele ein Opfer der Stalinschen Säuberungen. Aber Michaels Parfüm blieb.

Selbst glühende Kommunistinnen griffen lieber zu „Rotes Moskau“ (oder auch Parfüms wie „Rusalka“ und „Maiglöckchen“) als zu Düften wie „Spartakiada“, „Weißmeer-Kanal“ oder „Kolchos-Sieg“. „Krasnaja Moskwa“ war der olfaktorische Kontrapunkt zu dem Desinfektionsdunst, wie er im Ostblock in öffentlichen Räumen vorherrschte. In der DDR war bekanntlich „Wofasept“ das Desinfektionsmittel schlechthin, hergestellt zuletzt im Chemiekombinat Bitterfeld.

Auch für Rotes Moskau light werden inzwischen Blondinen bevorzugt.
Auch für Rotes Moskau light werden inzwischen Blondinen bevorzugt. © Verlag

Krasnaja Moskwa wie auch Chanel N° 5 standen laut Schlögel „für die Sehnsucht nach Schönheit in Zeiten des Krieges und der Not und für den Bruch mit einer Welt, deren Zeit abgelaufen war“. Verantwortlich für die im Staatstrust TeShe zusammengeschlossene Parfümindustrie in der Sowjetunion war Polina Schemtschuschina, die Frau des Außenministers Molotow, der mit Ribbentrop 1939 jenen berühmt-berüchtigten Pakt schloss, der das Dritte Reich und die Sowjetunion für fast zwei Jahre zu Kumpanen bei der Niederwerfung Nordosteuropas machte.

Polina Schemtschuschina wurde dann im Zuge einer antisemitischen Kampagne Stalins Ende der 1940er-Jahre als vermeintliche „Zionistin“ und „Kosmopolitin“ in ein Lager des „Archipel Gulag“ verbannt. Erst nach dem Tod von Stalin kam sie frei – und blieb doch bis zu ihrem Tod am 1. Mai 1970 in Moskau fanatische Stalinistin.

Dunkle Flecken in Vita

Auch Coco Chanels Vita hat dunkle Flecken. Aus ihrer feindseligen Haltung gegenüber den Juden machte sie laut Schlögel nie einen Hehl. Als Frankreich ab Mai 1940 für über vier Jahre von den Deutschen besetzt war, mag sie vielleicht niemand persönlich größeren Schaden zugefügt haben. Es findet sich jedenfalls nichts in den vorhandenen Akten. Aber die stille und alltägliche Kohabitation und Kollaboration verlieh dem Besatzungsregime jenen „Anschein von Normalität“, wie er auch vom Vichy-Regime erwünscht war.

Angebracht gewagt: Das vorletzte Kapitel behandelt die in erster Linie stinkende Geruchswelt der deutschen KZs einer- und der russischen Gulag-Lager andererseits. So verhindert der Autor, dass aus seinem essayistisch angehauchten Kabinettstück lediglich ein launig-assoziativer Spaziergang durch die Historie der Parfümerie des 20. Jahrhunderts wird.

Wie die KZs und der Gulag rochen

Karl Schlögel erinnert etwa an Jekaterina Shirizkaja, die in ihrer Untersuchung „Der Geruch der Kolyma“ der Wahrnehmung der Lagerwelt im Werk des russischen Literaten Warlam Schalamow nachgegangen ist. Dieser überlebte 17 Jahre Haft in den verschiedensten Lagern und schrieb nach seiner Freilassung 1953 seine „Kolymaer Erzählungen“ nieder, die man laut Shirizkaja „mit der Nase lesen“ sollte.

Alles hat und hatte seine Zeit. Schon Ende der 1970er-Jahre ließen in der Sowjetunion junge Mädchen und Frauen Rotes Moskau links liegen. Krasnaja Moskwa, dessen Duft jahrzehntelang in Konzerten oder auf Vernissagen zu erschnuppern war, galt, wie Schlögel nüchtern konstatiert, nun als das Parfüm „alter Tanten“, als „Oma-Parfüm“, ja als Duftmarke sowjetischer Kleinbürgerlichkeit, mit der die jüngere Generation nichts mehr zu tun haben wollte.

Karl Schlögel: Der Duft der Imperien. Hanser Verlag, 224 S., 23 Euro




July 15, 2020 at 06:44PM
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Parfüm
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